Besitzt jemand unter meinen Lesern ein IPhone?
Und werden euch regelmäßig Foto-Rückblicke vorgeschlagen?
Seid ihr auf Instagram aktiv und könnt die Archiv-Funktion der App nicht nutzen, ohne den „Heute vor sechs Jahren“ – Post zu sehen, der euch daran erinnert, was heute vor sechs (oder zwei. Oder fünf.) Jahren geschah?
Schon mal ausprobiert?
Heute vor neun Jahren zum Beispiel, befand ich mich samt meinem Nachwuchs in einem Van auf dem Weg von Santa Cruise nach San Francisco, die Musik und die Laune der Kinder gleichermaßen aufgedreht.
Schön war das.
Ich finde diese Rückblick-Features nicht schön, ich finde sie unerwünscht.
Mehr noch: Unerträglich.
Das klingt ein bisschen widersprüchlich, wenn ich doch seit über 15 Jahren tagebuchartig meinen Alltag und meine Gedanken dokumentiere.
Ich kann buchstäblich jederzeit online zurückblättern und mich exakt daran erinnern lassen, wie aufregend es damals war.
Oder wie abenteuerlich.
Wie schön. Und wie herausfordernd.
Wie unangenehm. Oder wie traumhaft.
Und waren die Kinder damals nicht unglaublich süß? Hach.
Alles das mag ich nicht.
Es widerstrebt mir zutiefst, die persönlichen Erinnerungen zu durchforsten und mich gedanklich und emotional in ihnen aufzuhalten.
Dabei ist es komplett egal, ob diese positiv, negativ oder neutral waren: Ich will nicht.
Ich will mich gerade jetzt nicht daran erinnern, was ich vor neun Jahren in Kalifornien tat, weil – obwohl das alles so schön wie nur irgendwie denkbar war – ich dort gerade nicht bin.
Obendrauf bin ich eine vollkommen andere Person als vor neun Jahren.
Und eine vollkommen andere als die vor einem Jahr.
Was interessiert mich der Schnee von Cali von gestern?
Begibt man sich auf eine emotionale Rückreise, beginnt man meistens unwillkürlich zu vergleichen:
„Ach, was war das damals schön. Ach, was waren die Kinder süß. Ach, was für ein schönes Wetter hatten wir.“
Das denkt und fühlt man dann, während es gerade in Nürnberg in Strömen schüttet.
Zack!, schwelgt man in Erinnerungen und/oder wird unzufrieden mit der Gesamtsituation.
Weil hier Regen und kalt und damals… hach.
Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich das verabscheue.
Dieses melancholische Schwelgen in Erinnerungen, dieses Nachfühlen und die subtile Sehnsucht nach dem vermeintlich schöneren Früher.
Das ist für mich nicht schön, das ist Kitsch.
Ganz sicher werde ich keine Person sein, die es „am schönsten fand, als die Kinder noch klein waren.“
Oder „am schönsten fand, als wir noch hier und da gewohnt haben.“
Oder „am schönsten fand, als ich noch jünger war, weil da war xyz noch anders. Und meine Haut straffer.“
Noch verheerender finde ich es, etwas Negatives aus der Vergangenheit nachzufühlen.
Absolutes No Go für mich.
Jemand hat mich verletzt? Mir ist etwas Negatives zugestoßen? Ich wurde hintergangen? Es hat etwas nicht funktioniert?
Schlimm genug.
Peinlichst genau werde ich darauf achten, dass weder meine Gedanken noch meine Gefühle einen Ausflug in die Vergangenheit unternehmen.
Es wird sich nicht noch im Nachhinein geärgert („Hätte ich damals nur..„) oder dem/der VerursacherIn Schlechtes gewünscht oder allgemein gegrämt.
Ich will nicht jemand werden, der von den negativen Erfahrungen der Vergangenheit gezeichnet, mit den Jahren seine Unbekümmertheit und Leichtigkeit verloren hat und bitter und hart geworden ist.
Vergeben, vergessen, vorbei.
Lieber ein Ausflug nach Paris als ein Ausflug nach „Damals, als das Schlimme passiert ist.“
Ich glaube, mir ist überhaupt noch nie etwas Schlimmes passiert.
Oder vielleicht doch, aber ich werde mich jetzt garantiert nicht freiwillig erinnern.
Jede Art von nostalgischem Rückblick – positiv oder negativ gefärbt – empfinde ich als eine persönliche Bankrotterklärung.
Mag sein, dass mancher Umstand angenehmer und ein anderer herausfordernder als gerade jetzt war.
Aber das spielt keine Rolle.
Mein Leben sind nicht die momentanen Umstände, mögen sie gerade noch so schön oder noch so schlimm sein.
Mein Leben ist die Liebe.
Jeder Vergleich, der sich aufgrund eines solchen Rückblicks anbietet, ist respektlos.
Dem Jetzt gegenüber. Mir als Person gegenüber.
Jeden Augenblick, den ich in „Vor sechs Jahren“ verbringe, könnte ich genauso gut im Hier und Jetzt sein.
Mag ja sein, dass vor sechs Jahren etwas Angenehmes oder Schreckliches geschah, aber die Person, die das erlebt hat, bin ich längst nicht mehr.
Wenn ich nichts mit Früher vergleiche, dann bin ich weder ein gebranntes Kind, noch jemand, der vorbelastet ist, noch jemand, der es „schade findet, dass daraus nichts geworden ist, weil ich mir das anders gewünscht hätte.“
Wenn man zu lange darauf schaut, was alles nicht geklappt hat, bekommt man am Ende noch eine Looser-Identität, das geht schneller, als ihr glaubt.
Ganz sicher nicht bei mir.
Ich mag ebenso keine Wehmut-Nostalgie am Start haben, weil „Hach, damals, als ich noch jünger war, da…“
Lieber Mut als Wehmut.
Es steht jedem frei, seine Fotoalben so oft wie es geht anzuschauen, aber ich will nicht.
Meine Vergangenheit ist ausgelöscht.
Meine Zukunft ist gesichert (steht doch geschrieben, man soll sich keine Sorgen machen).
Mein Leben findet heute statt.
Liebesgrüße
Joanna
P.S. Zum besseren Verständnis:
Alles, was in der Vergangenheit richtig lustig war (manchmal nicht so lustig im Moment, aber dafür im Nachhinein), wandeln meine Kinder und ich auf der Stelle in einen Insider-Spruch, der fortan für Heiterkeit im Inner Circle aus Family&Friends sorgt.
Dafür sind Erinnerungen genau richtig ;).
Und meine Inspirationstexte und Rezepte sind natürlich zeitlos.
Alles andere schaue ich mir nicht an ;))).
Susann Alvarez
22. Mai 2024 at 12:22So gut!
Joanna
22. Mai 2024 at 12:40❤️!
Ines
22. Mai 2024 at 12:26Danke für die Erinnerung 🙂 mich nerven diese Rückblicke auch und ich hab genau die gleichen Gedanken dazu. Gleich mal Google befragen, wie man die deaktiviert.
Joanna
22. Mai 2024 at 12:40Man braucht gar nicht die Fotos, um in der Vergangenheit zu leben ;))). Geht auch mit Erinnerungen im Kopf, ha ha.
Kiara
22. Mai 2024 at 12:30Oh Joanna! Danke!! Das spricht mir so aus dem Herzen. Danke danke danke!
Joanna
22. Mai 2024 at 12:39Sooooo gerne ❤️!!!
Stefanie
22. Mai 2024 at 12:48Lieber Mut als Wehmut – super ! Mich mach(t)en schöne Erinnerungen immer eher traurig ( weil vorbei). Sehr guter Post – toll wie du das aufgeschrieben hast !!
Sabine Schmidt
22. Mai 2024 at 12:57Hallo,
auch wenn ich hier gegen den Trend „schwimme“, ich mag Erinnerungen von früher und habe auch kein Problem damit Rückblicke angezeigt zu bekommen, zeigt es doch, welche schönen Momente es schon im Leben gab. Das heißt ja nicht, daß man in der Vergangenheit lebt.
Schöne Grüße
Sabine
Joanna
22. Mai 2024 at 13:21Wenn man dabei nicht wehmütig wird, ist es ja auch total schön :)l
Sina
22. Mai 2024 at 13:05Also ich sehe das anders.
Ich schwelge gerne in Erinnerungen da mein jetziges Leben gerade den Bach runter läuft. Mein Mann hat sich in eine andere Frau verliebt aber ich liebe Ihn auch noch, stecke in einer verzwickten Trennung und Wiederfindungs Phase. Zum gleichen Zeitpunkt hat mir mein Arbeitgeber nach etlichen Jahren gekündigt. Vor lauter ärger, stress, angst & Unmut habe ich innert einem halben Jahr 15 Kilogramm abgenommen was auch nicht Gesund ist……….
Ich würde alles geben wäre es wider wie früher ( vor ein paar Jahren wo noch alles PERFEKT war)
Nun ja die Ansichten sind verschieden.
Joanna
22. Mai 2024 at 13:21Ganz viel Kraft dir ❤️.
Jana
22. Mai 2024 at 13:23Liebe Joanna,
Das holt mich auf sehr vielen Ebenen gerade ab! Ich stehe kurz vor einer massiven Veränderung in meinem Leben und erwische mich ständig dabei wie ich an „Früher“ denke, an Dingen festhalte, und sowas sage wie „bin ich ein Versager, wenn ich alles hinter mir lasse?“ Nach dem Motto „die hat’s nicht geschafft?“ „Schau was sie alles hatte, nun lässt sie es zurück!“ Der Satz von dir bzgl der „Looser-Mentalität“ und dass dies schneller geht als man denkt, ist sowas von wahr! Ich will es nicht soweit kommen lassen. Also Danke! Danke, dass du diesen Text geschrieben hast und immer wieder alles gerade rückst, wenn ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehe.
Joanna
22. Mai 2024 at 13:26Ha ha, ich hab sicher mehr hinter mir und losgelassen, als dass ich geschafft habe :).
Keiner darf dich verurteilen, nicht mal du dich selbst ❤️.
Heike
22. Mai 2024 at 23:14Das gefällt mir neben dem Nicht-Reisen ins „Schlimmerland“ noch besser: „Niemand darf Dich verurteilen, nicht mal Du Dich selbst.“ Das befreit doch sehr. Und zack! Gerade noch mal abgebogen. Wo geht’s noch mal nach Paris? Ah. Oui! Merci:-)
Liebe Grüsse
Heike
Lilli Schwager
22. Mai 2024 at 13:36Und wieder hast du recht
Ich folge dir schon sehr lange erst auf YouTube und dann habe ich mich wegen dir auf Instagram angemeldet.
Durch dich bin ich aus einer sehr schwierigen Situation gekommen..
Danke
Joanna
22. Mai 2024 at 13:43Das freut mich so, liebe Lilli ❤️!
Catalina
22. Mai 2024 at 14:12This!!
Catalina
Joanna
22. Mai 2024 at 14:36❤️
Elli
22. Mai 2024 at 15:53Ich kann sehr gut im Jetzt leben, finde es aber immer wieder rückblickend schön, was man alles Schöne erlebt hat und aus dem nicht so Schönen habe ich die Erfahrung und Stärke ins Jetzt mitgebracht. Das nenne ich dann Dankbarkeit ❤️
Katharina
22. Mai 2024 at 16:04Ahhhh wow hat der Text gut getan! Danke, danke, danke!! ❤️
KIRSTEN
22. Mai 2024 at 21:08Liebe Liebe!
Das passt so sehr zu einem Satz, den Du im workshop sagtest und den ich erst durch diesen Text nun richtig verstehe. ( heulend lacht)
Quasi die Anleitung zu:
„Ich lebe so, als wenn mich noch nie jemand verletzt hätte“
Joanna
22. Mai 2024 at 21:25Ja, ganz genau so ist das, liebste Kirsten ❤️❤️❤️!!!
Nanette Maske
25. Mai 2024 at 15:49Ich schau mir gerne einen Rückblick an. Trotzdem lebe ich im hier und jetzt. Mich macht es weder melancholisch , noch wütend.
Bea
30. Mai 2024 at 18:53Ich liebe meine Fotobücher und auch mein Tagebuch. Trotzdem lebe ich heute und bin total bei mir.
Alex
16. August 2024 at 9:30Was machst du wenn du Fotos siehst die dich an etwas von früher erinnern? Vielleicht wird etwas in dir wehmütig weil es einfach soooo schön war. Was machst du wenn du jemanden triffst der dich hintergangen hat und etwas fängt an daran zu denken und sich zu ärgern? Drückst du das weg? Darf das nicht da sein? Ist das wirklich Liebe zu dir selbst? Ich kann mich doch an früheren Erfahrungen freuen, und wenn ich wehmütig dabei werde, dann zeigt mir das, dass ich im Moment vielleicht in einer Situation bin, in der ich nicht so fröhlich bin. Oder wie gerne ich immer so leben würde, und ich kann lernen zu akzeptieren das es vielleicht nicht möglich ist. Und ich kann mir überlegen was ich jetzt bräuchte. Und wenn ich jemanden von früher sehe und ich mich ärgere, dann kann ich doch bemerken, dass ich da noch eine Rechnung offen habe. Und mich fragen was hätte ich gebraucht oder was braucht es jetzt noch um es wirklich loslassen zu können. Klar, ich kann auch keine Lust haben mich damit zu beschäftigen, das ist ja völlig legitim. Aber es nicht fühlen zu wollen? Fühlt sich für mich ziemlich anstrengend an…
Joanna
24. August 2024 at 11:29Ich trage nichts emotional… Unaufgeräumtes/Unerledigtes herum ;).
Klar, wenn dich etwas bedrückt, muss man da ran, aber das passiert bei mir gleich, nicht erst irgendwann.
Aber so sind wir eben unterschiedlich – jeder darf leben, wie er gerne mag.