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Baltic Sea – Escape: Weite, Ruhe und 2 Sätze, dank denen euch jeder für Einheimische hält.

Jil und ich hatten im letzten Monat entschieden, dass wir öfter vom Sommerhaus aus arbeiten wollen, und so packten wir am letzten Dienstag kurzentschlossen unserer Laptops, Bikinis, und eine Leinwand Neo ein, und fuhren über Berlin an die Ostsee.

Die Abfahrt gestaltet sich etwas chaotisch, denn Jil beschließt in letzter Minute, ihr überdimensional großes Gemälde, dass sie vor einigen Wochen bei Noelle in Auftrag gab, nach Berlin mitzunehmen, um es auf dem Weg in ihrer Wohnung abzuladen.
Zunächst wuchten wir das Bild in den Kofferraum – es passt gerade so hinein, was leider nicht länger auf den Hund zutrifft.
Okay, keine Option.
Dafür liebt der Hund das Meer zu sehr.

Wir überlegen, die Leinwand am Dach des Autos zu befestigen, finden zu diesen Zwecken auf Anhieb genügend Spanngurte (UND DAS IST DAS UNGLAUBLICHSTE AN DER GESCHICHTE!), kommen mit der Technik der Spanngurte nicht klar, fragen Nachbarn um Hilfe, befestigen mit vereinten Kräften die Leinwand auf dem Dach, fahren stolz los, und kommen exakt 10 Minuten später wieder vor unserer Haustüre und zum Erstaunen ebendieser Nachbarn an:
Dank des Fahrtwindes macht das Bild einen solchen Lärm, dass man sich nur schreiend unterhalten kann, und alle anderen Autofahrer vermutlich an eine A380 Landung mitten auf der Schnellstraße glauben – und wir sind noch nicht mal bei 80km/h angekommen.
Außerdem muss Jil deswegen ganz fruchtbar lachen: „Muuuum, wir können unmöglich SO fahren!“.
Unsere Nachbarn machen die Leinwand wieder los (wer zum Henker hat diese Gurte so fest gezerrt?!), und wir fahren ohne Lärm und Leinwand gen Norden.

Die atemberaubendste Leinwand überhaupt sind ohnehin die endlosen Weiten der Ostsee, und Jil spricht ihrerseits das erste Mal aus, was mich seit Jahren so daran fasziniert:
„Ich liebe es, dass man stundenlang laufen und laufen kann, und nicht nur keinem einzigen Menschen begegnet, sondern das Gefühl hat, dass dort noch nie jemand war. Diese Einsamkeit in der Natur ist überwältigend schön.“

Pommern mag als Urlaubsland seine Nachteile haben – so fehlt eindeutig der Lifestyle-Aspekt wie kleine, inspirierende Shops und Märkte. Wer Shopping liebt, wird nicht wirklich auf seine Kosten kommen – aber wer abschalten und zur Ruhe kommen möchte, ist hier ganz sicher richtig.


Und noch etwas ist mir diesmal erneut positiv aufgefallen:
die unangestrengte, absichtslose Herzlichkeit der Menschen.

Ich bin der Meinung, dass man eine Kultur erst richtig verstehen kann, wenn man ihre Sprache spricht, und da ist mein Polnisch ein klarer Vorteil, denn es garantiert mir stets die „Kein Tourist“-Behandlung, und ermöglicht das Eintauchen in den spontanen, täglichen Umgang untereinander.
„Herzlich“ ist das Wort, dass es am besten beschreibt:
Es findet seinen Ausdruck in einer überaus freundlichen Tonlage, in der Art, in der jeder willkommen ist, in den kleinen Scherzen, die zwischendurch gemacht werden, in der „Skarbie“-Ansprache.
(Würde mich hierzulande ein unbekannter Verkäufer „Schatz“ nennen, wäre das zumindest verstörend – in Polen dagegen ist es einfach nur liebevoll gemeint, und stört mich kein bisschen, weil es so aufrichtig klingt.)

Diese Herzenswärme konnte ich täglich bei unterschiedlichen Personen, an unterschiedlichen Orten und bei unterschiedlichen Situationen beobachten, und traue mich zu behaupten, dass es eine nationale Tugend ist.
Wie überall auf der Welt gibt es auch in Polen garantiert Ausnahmen, aber der Grundton der mitmenschlichen Kommunikation ist herzlich, wohlwollend und immer ein wenig humorvoll.
Ich gebe zu, ich liebe die Polen.

 


Da ich Menschen grundsätzlich liebe, sind das vielleicht keine so überraschenden News für einige von euch..
Für mich ist es jedoch dennoch irgendwie neu, weil ich seit Jahrzehnten keine Identifikation mit dem Land mehr besaß.
Die Ursache dafür kenne ich:
Immer, wenn etwas zu Ende geht, lasse ich das Alte vollkommen hinter mir, und fokussiere mich stattdessen zu 100% auf das Neue.
Ein sauberer Cut.
Es ist, wie wenn es das Frühere niemals gegeben hätte, es passiert ganz ohne mein eigenes Zutun oder eine bewusste Willensentscheidung, und hat nichts damit zu tun, ob dieses „Früher“ gut oder schlecht war.
Exakt so erlebte ich es vor vielen Jahrzehnten nach meiner Ausreise nach Deutschland: ich tauchte wie ein Fisch ins Wasser in die deutsche Kultur ein, sprach nach 3 Monaten ohne vorherige Sprachkenntnisse ein perfektes Deutsch, fand neue Freunde und dachte keine Sekunde mehr an früher.

Selbst, wenn ich regelmäßig nach Stettin zu Besuch fuhr, hatte ich eine gewisse Distanz inne – keine Abwehr, aber auch keine wirkliche Nähe.
Das ändert sich gerade – ebenso ohne mein Zutun – und macht mir sehr viel Spaß.


By the way:
Dank dem absolut fehler- und vor allem akzentfreien (!) ganzen ZWEI Sätzen, die meine Kinder auf polnisch sagen können:
1. „Dzień Dobry!“ (= Guten Tag)
2. „Gdzie są moje okulary?“ (= Wo ist meine Brille? = Der Anfangssatz eines bekannten polnischen Kindergedichts)
werden sie zumindest nach dem Äußern des ersten sofort auf polnisch angesprochen.
Jeder Pole nimmt folgerichtig an: derjenige, der so perfekt „Dzień Dobry“ betont, kann nur ein Einheimischer sein.
Aufgrunddessen müssen meine Nachkommen des Öfteren einem polnischen Monolog zuhören, bevor sie zu Verstehen geben können, dass sie nichts außer „Gdzie są moje okulary?“ darauf erwidern könnten.

Und das ist nun mal – wie ihr vermutlich schon geahnt habt – in den wenigsten Fällen die adäquate Antwort.

Liebesgrüße
Joanna

 

 

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6 Comment

  1. Reply
    Kunstecht & Travel
    24. Juli 2019 at 21:55

    Back to the roots… 🙂 und je älter man wird um so mehr weiss man es zu schätzen.

  2. Reply
    Adrian @djadig
    24. Juli 2019 at 22:34

    Zapomniałaś o parawanach nad morzem… ale tak to prawda, jest super!

  3. Reply
    Petra
    24. Juli 2019 at 22:44

    Liebe Joanna, ich danke dir sehr für deinen humorvollen, aufrichtigen und intensiven Beitrag. Ich folge dir bereits eine Weile und mag deine zauberhaften Fotos, emotionalen und sehr interessanten Berichte sehr. Ich arbeite mit vielen wunderbaren internationalen Kolleginnen/Kollegen zusammen und geniiiiieße diese Kulturvielfalt! Inzwischen habe ich auch einige reizende, polnische Kollegen hinzubekommen und interessiere mich sehr für deren Kultur. Liebste Grüße und eine schöne Zeit, Petra

  4. Reply
    Petra
    25. Juli 2019 at 13:53

    Erst jetzt merke ich , wie schön doch polnisch sich anhört. Vielleicht sollte ich damit auch mal anfangen( seufz)

  5. Reply
    Snjezi
    1. August 2019 at 19:11

    Liebe Joanna, skarbie <3
    was für wunder-wunder-schöne Fotos!
    Von Dir sowieso, aber der Steg… und die Farbe des Meeres… und die Pastelltöne des Himmels… Wahnsinn! Schöner als jedes Gemälde. Vor allem nicht so laut ;))) Zumindest nicht, wenn das Wasser so seicht ist. Bei der Beschreibung eurer Gemälde-Aktion musste ich grad so lachen und kann es mir bildlich vorstellen, vor allem auch die Gesichter eurer Nachbarn.
    Danke für den wunderschönen Post.
    Liebe Grüße
    Snjezi

  6. Reply
    Cilia
    2. August 2019 at 11:50

    Liebe Joanna,
    wieder ein sehr schöner Beitrag! Als ich vor über 20 Jahren nach Berlin gekommen bin. Ich habe sehr schnell Deutsch gelernt und spreche akzentfrei (was für eine Französin nicht einfach ist…). Um mich voll zu integrieren und nicht ständig an Heimweh zu leiden, habe ich meine Heimat viele Jahre entweder sehr kritisch beobachtet und nicht immer positiv verurteilt, oder komplett ignoriert. Nur mit den Kindern habe ich als sie noch klein waren versucht, Französisch zu reden. Jetzt mit 42 habe ich endlich meinen Frieden gefunden und meine Kinder fühlen sich in Frankreich wie zu Hause.
    Liebe Grüße
    Cécile

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